Deutscher Suchtkongress
Bd. 2 Nr. 1 (2025): Deutscher Suchtkongress
https://doi.org/10.18416/DSK.2025.2270
Diagnostische Validität der ICD-11 und DSM-5 Kriterien für Internetnutzungsstörungen
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Abstract
Hintergrund und Fragestellung
Mit der Aufnahme der Computerspielstörung im ICD-11 wurden diagnostische Kriterien für dieses relativ neue Störungsbild eingeführt. Diese Kriterien könnten auf andere mögliche Internetnutzungsstörungen angewandt werden. Im DSM-5 werden neun Kriterien für die Computerspielstörung vorgeschlagen, die teilweise inhaltlich von den insgesamt vier ICD-11 Kriterien abweichen. Eine internationale Delphi-Studie (Castro-Calvo et al., 2021) zeigte, dass einige DSM-5 Kriterien als klinisch weniger relevant eingestuft wurden, während den ICD-11 Kriterien durchweg hohe Relevanz zugesprochen wurde. Ziel der vorliegenden Studie war es, die diagnostische Validität beider Klassifikationssysteme zu untersuchen und Unterschiede in der Klassifikation zu analysieren.
Methoden
Die Daten für diese Studie wurden im Kontext der DFG-geförderten Forschungsgruppe FOR2974 an mehreren Standorten in Deutschland erhoben (N=875). Diagnostiziert wurde mithilfe eines strukturierten klinischen Interviews (basierend auf DSM-5 Kriterien für Computerspielstörung) für vier internetbezogene Verhaltenssüchte: Computerspielstörung, online Kauf-Shoppingstörung, Pornografie-Nutzungsstörung und problematische Nutzung sozialer Netzwerke. Zum Vergleich mit ICD-11 Kriterien wurden äquivalente DSM-5 Kriterien ausgewählt. Es wurden Korrelations- sowie Kontingenzanalysen durchgeführt. Diskrepanzen in der Diagnostik wurden deskriptiv auf Kriteriumsebene untersucht.
Ergebnisse
Bei Anwendung eines Cut-offs von fünf von neun DSM-5 Kriterien wurden 307 Personen als pathologisch klassifiziert. Wurden hingegen ausschließlich die vier DSM-5 Kriterien berücksichtigt, die den ICD-11 Kriterien entsprechen, reduzierte sich die Anzahl pathologischer Diagnosen deutlich auf 93. Die Korrelation zwischen beiden Klassifikationen war moderat (r = .454). Besonders häufig erfüllten Teilnehmende mit abweichender Einstufung, Kriterien, die nur im DSM-5 enthalten sind (z.B. 80% erfüllten das Kriterium Emotionsregulation).
Diskussion und Schlussfolgerung
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass ICD-11 und DSM-5 unterschiedliche Schwerpunkte zur Diagnose von Internetnutzungsstörungen setzten. Einzelne DSM-5 Kriterien könnten zur Überklassifikation beitragen. Die Befunde stützen die Ergebnisse der Delphi-Studie, die ebenfalls die eingeschränkte klinische Relevanz einzelner DSM-5 Kriterien zeigte. Insgesamt wird deutlich, dass die Klassifikationssysteme Unterschiede in der Diagnosestellung aufweisen und dass eine hohe diagnostische Sensitivität bei gleichzeitiger Vermeidung von Überpathologisierung angestrebt werden sollte.
Interessenskonflikte sowie Erklärung zur Finanzierung
Ich bzw. die Koautorinnen und Koautoren erklären, dass während der letzten 3 Jahre keine wirtschaftlichen Vorteile oder persönlichen Verbindungen bestanden, die die Arbeit zum eingereichten Abstract beeinflusst haben könnten.
Erklärung zur Finanzierung: Die Arbeit aller Autor:innen an diesem Artikel erfolgte im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe zu affektiven und kognitiven Mechanismen spezifischer Internetnutzungsstörungen (FOR2974, 411232260).