Deutscher Suchtkongress
Bd. 1 Nr. 1 (2023): Deutscher Suchtkongress
https://doi.org/10.18416/DSK.2023.1049

Der Komplexität von Sucht gerecht werden: Potentiale und Herausforderungen qualitativer Interviewstudien im Feld der Suchtforschung (S50)

Internetnutzungsstörungen bei Frauen: Qualitative Biografieforschung zum kontextsensitiven Verständnis der Entstehung von Sucht

Hauptsächlicher Artikelinhalt

Birte Linny Geisler (Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen)

Abstract

Hintergrund und Fragestellung
Frauen mit einer Internetnutzungsstörung tauchen weiterhin kaum in spezifischen Versorgungsangeboten auf. Um wirksame Hilfen zu entwickeln, kann ein qualitativ-biografisches Studiendesign wichtige Erkenntnisse liefern: Es erfasst individuelle Kontextfaktoren und leitet daraus generalisierbare Muster ab. Dies ermöglicht die Gestaltung nachhaltiger Therapieangebote. Die Fragestellung lautet: Wie zeigt und erklärt sich aus biografischer Perspektive die Entstehung einer Internetnutzungsstörung bei Frauen?


Methoden
Es wurden 24 biografisch-teilnarrative Einzelinterviews mit internetnutzenden Personen, die sich dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlten, geführt. Bei 21 lag eine problematische Internetnutzung vor, darunter 11 mit einer Internetnutzungsstörung. Mittels Triangulation der Qualitativen Inhaltsanalyse mit einer hermeneutisch-rekonstruktiven Analyse in Anlehnung an das Integrative Basisverfahren erfolgte die biografische Verortung der Internetnutzungsstörung sowie die Identifizierung biografischer Risiko- und Schutzfaktoren. In der Queranalyse wurden fallübergreifende Muster in ermittelt, die die Zusammenhänge zwischen Biografie und der Entstehung einer Internetnutzungsstörung verdeutlichen.


Ergebnisse
Biografische Belastungsfaktoren können die Entwicklung einer Internetnutzungsstörung begünstigen. Jedoch wird sowohl in Längsschnitt- als auch Queranalyse deutlich, dass die betroffenen Frauen die problematisch genutzte Internetanwendung dazu einsetzten, Lebenskrisen wie z. B. eine Trennung, beruflichen Leistungsdruck oder eine Depression ‚durchzustehen‘. Die Internetnutzungsstörung kann somit – trotz ihrer negativen Auswirkungen – im Kern die Funktion einer Lebensbewältigungsstrategie haben, wenn alternative ‚analoge‘ Strategien zur Lösung der dahinterliegenden Problematik fehlen.


Diskussion und Schlussfolgerung
Die biografische Analyse der Lebensverläufe von Frauen mit einer Internetnutzungsstörung verdeutlicht die vielschichtige Verzahnung von kritischen Lebensereignissen und der Nutzung bestimmter Internetanwendungen. Entscheidend ist dabei weniger das Ausmaß der biografischen Belastung, sondern vielmehr, welche Bandbreite an Lebensbewältigungsstrategien der jeweiligen Betroffenen zur Verfügung steht und welche Bedeutung die Internetnutzung dabei einnimmt.


Offenlegung von Interessenskonflikten sowie Förderungen
Ich und die Koautorinnen und Koautoren erklären, dass während der letzten 3 Jahre keine wirtschaftlichen Vorteile oder persönlichen Verbindungen bestanden, die die Arbeit zum eingereichten Abstract beeinflusst haben könnten.

Artikel-Details

Zitationsvorschlag

Geisler, B. L. (2023). Internetnutzungsstörungen bei Frauen: Qualitative Biografieforschung zum kontextsensitiven Verständnis der Entstehung von Sucht. Deutscher Suchtkongress, 1(1). https://doi.org/10.18416/DSK.2023.1049